In diesem sukzessiv entstehenden Arbeitsjournal dokumentieren die Teilnehmenden Arbeitsschritte, Arbeitsprozesse und Resultate der jeweiligen Projektstunden, sodass am Ende ein Eindruck von Schaffensprozess und -kontext entsteht.
Während der nicht dokumentierten Termine arbeiten wir an Texten,
schreiben oder besprechen bevorstehende Veranstaltungen.
Mit einem
Spaziergang über den jüdischen Friedhof begann alles
...
Für unsere heutige Sitzung hatten wir ganz besonderen Besuch eingeladen:
Den Historiker und ehemaligen Lehrer (Albert-Einstein-Gymnasium in
Hameln) Bernhard Gelderblom. Herr Gelderblom hat seit nunmehr über 25
Jahre die Geschichte der Juden in und um Hameln erforscht und was er uns
zu erzählen hatte, war somit besonders interessant.
Sein Interesse speziell an diesem Thema entstand während eines
Spaziergangs auf dem jüdischen Friedhof in Hameln. Da es seit der
NS-Zeit keine Juden mehr in Hameln gab und sich auch sonst niemand um
den Friedhof kümmerte, war er in einem schlechten Zustand. Herr
Gelderblom selbst beschrieb ihn als einen „vergessenen Ort“.
Die ersten Grabsteine dort sind im Jahre 1741 aufgestellt worden –
ausnahmslos alle waren aber ziemlich mitgenommen, zahlreiche in der
NS-Zeit sogar komplett zerstört worden. Herr Gelderblom setzte sich für
eine bessere Pflege des Ortes ein. Er selbst veranstaltete Führungen
über den Friedhof.
Die Namen auf den Grabsteinen inspirierten ihn zu weiteren
Nachforschungen und so begann er 1985, Einzelschicksale zu
recherchieren. Die Nachforschungen gestalteten sich schwierig, da es
kompliziert war, an die benötigten Akten heranzukommen. Die Arbeit
bedurfte einer gewissen Beharrlichkeit, um erste Erfolge verzeichnen zu
können.
Noch wichtiger als die Suche nach Akten waren für ihn Kontakte zu den
ehemaligen Hamelner jüdischen Bürgern. So erzählte uns Herr Gelderblom
vom Schicksal eines Mädchens. Wir sahen ein auf Leinwand projiziertes
Foto von ihr und weiteren Juden – ein Klassenfoto zusammen mit ihrem
Lehrer. Alle diese Kinder konnten entkommen, auch Ruth Bienheim. Sie war
8 Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Ihr Vater war Rechtsanwalt und
hatte bald unter der Diskriminierung und dem Boykott der Nazis zu
leiden. Schlussendlich war er arbeitslos. Viele Juden waren zu dem
Zeitpunkt bereits ausgewandert und so hatte Ruth kaum noch jüdische
Mitschüler. Dieser Umstand trieb sie bald in die Isolation. Als ihre
Klasse einen Badeausflug machte und sie mitkommen musste, wurde klar,
dass Baden für sie keinen Spaß mehr machen sollte: Eine ihrer
Mitschülerinnen rief, dass alle aus dem Wasser kommen müssten, da eine
Jüdin im Wasser schwömme. Kein Kino, kein Baden in einer Badeanstalt –
eigentlich war ihr nichts mehr erlaubt, was Spaß hätte machen können.
So wanderte Ruth 1938 schließlich mit ihren Eltern nach Palästina aus –
kurz bevor in Deutschland die Synagogen angezündet wurden. Im Gegensatz
zu ihrem Vater lebte sie sich den Umständen entsprechend gut ein und
wohnt auch heute noch in Israel, wo Herr Gelderblom sie ausfindig
gemacht hatte.
Ruth Birnbaum teilt ein ähnliches Schicksal: auch sie war auf dem
Klassenfoto von damals zu sehen; auch sie floh schlussendlich in das
heutige Israel. Mit 15 Jahren war sie nach Holland gegangen, wo sie ein
Ausbildungslager für landwirtschaftliche Arbeiten besuchte, um die
Genehmigung zu bekommen, nach Palästina einreisen zu können. Sie war
nach Palästina ohne ihre Eltern geflohen und bekam nur noch Nachrichten
von ihnen anhand von Briefen, die über das Rote Kreuz geschickt wurden.
Über diese Briefe erfuhr sie auch, dass ihre Mutter sich wegen der
Verfolgung das Leben genommen hatte und dass ihr Vater in das Warschauer
Ghetto deportiert worden war, wo er letztlich umgekommen ist.
Susanne Herzberg hat wieder eine andere Geschichte: Sie wurde 1928
geboren. Ihren Vater lernten wir als stolzen Sanitätsarzt im ersten
Weltkrieg kennen. Als Arzt praktizierte er auch später noch, bis der
Boykott der Nazis auch ihn erreichte. Eine gute bürgerliche deutsche
Familie verlor so jegliches Ansehen. Dies erreichte einen Höhepunkt, als
Gerüchte über den Vater gebracht wurden, er hätte Frauen in seiner
Arztpraxis vergewaltigt. Schlussendlich floh die Familie nach Berlin,
aber auch hier konnte der Vater nicht länger praktizieren: er war ja ein
Jude. Weiter ging es nach Italien, wo sich die Familie trennte: Die
Tochter Susanne ging nach Holland, die Eltern flohen nach Frankreich.
Doch auch hier gelang es ihnen nicht, zur Ruhe zu kommen. So flohen sie
gemeinsam nach Brasilien, wo Susannes Vater starb. Die Mutter zerbrach
seelisch an diesem Ereignis und so musste die Tochter ihre Mutter so gut
es ging unterstützen. In ihren Briefen an Herrn Gelderblom beschreibt
sie ein ständiges Grundempfinden von Angst, das Bestreben nicht
aufzufallen und toleriert zu werden. Susanne Herzberg ist
Sozialarbeiterin geworden; sie will anderen helfen – was sich aus ihrer
Biografie erklären mag.
Herr Gelderblom hat mehr als einmal betont, wie ungeheuerlich er es
empfindet, dass Kinder auf der Welt existierten, die deportiert wurden,
ohne ihre Spuren zu hinterlassen.
So war es zum Beispiel mit Hannelore Zeckendorf. In dem Dorf Hemmendorf
bei Hameln, in dem sie gelebt hatte, wurde sie als immer fröhlich und
nett beschrieben. Sie lebte dort in einem Haus, das ihre Familie seit
gut 200 Jahren bewohnt hatte. Doch um 1938 verliert sich bereits ihre
Spur. Bekannt ist, dass ihr Vater während der Pogromnacht, wie viele
andere jüdische Männer, nach Buchenwald gebracht wurde, wo er letztlich
an den Prügelattacken starb. Des Weiteren ist bekannt, dass Hannelores
Mutter 1940 nach Hannover ging, um dem dörflichen Naziterror zu
entgehen. Doch bald kehrte sie zurück und ging schließlich nach
Göttingen. 1942 wurde sie von dort gemeinsam mit ihrer Tochter
deportiert. Wo Hannelore aber in der Zwischenzeit war, ist ungewiss.
Wahrscheinlich war sie 1942 bei einer Tante in Köln, um die Flucht
vorzubereiten, jedoch vergebens.
Ein ähnlich trauriges Schicksal erlitt Ingrid Friedheim. Ihre Mutter
Sofie war Näherin. Sie hatte sich vermutlich taufen lassen, jedenfalls
sehen wir die Familie Ingrids auf einem Foto: Sie feiern Weihnachten. So
oder so hatte die Familie jüdische Vorfahren und so wurde auch sie von
den NS-Leuten schikaniert. Am 14.11.1936 kommt Ingrid zur Welt. Sie hat
es doppelt schwer: Neben den jüdischen Vorfahren, die sie hat, ist sie
auch noch die uneheliche Tochter eines Ariers. Dieser lässt Ingrids
Mutter natürlich sitzen. Er wollte sich ja nicht mit einer Jüdin
einlassen. Und so stand Sofie allein mit ihrer Tochter da. Schließlich
heiratete sie einen Mann, der ein ähnliches Schicksal teilte: Er war
auch Jude und Vater. Die Familie wurde bald nach Hannover-Ahlem
gebracht. Acht Monate verbrachte sie dort, gefangen unter den
schändlichsten Umständen. Danach wurde sie nach Auschwitz deportiert, wo
die Männer arbeiten mussten und die Frauen sofort umgebracht wurden.
Herr Gelderblom zeigte uns noch zwei Bilder eines von einem Künstler
gestalteten Mahnmals am Bahnhof Grunewald in Berlin zum Gedenken an die
mehr als 50.000 Juden Berlins, die von dort in Vernichtungslager
deportiert und ermordet wurden. Die Fotos zeigen die Abdrücke gleichsam
einbetonierter Menschen, die allmählich kleiner werden, sich aufzulösen
scheinen. Sie verschwinden, hinterlassen keine Spuren.
Wir hatten noch ein wenig Gelegenheit, mit Herrn Gelderblom zu sprechen
und so kamen wir bald auf das Thema, wie Juden systematisch schikaniert
wurden. In der NS-Zeit waren Juden gezwungen, ihre Angehörigen nur noch
ohne Särge und ohne Grabsteine zu beerdigen. Niemand wollte mehr etwas
für Juden herstellen, niemand wollte ihnen helfen. Dabei war nie
eindeutig, ob es sich um Antisemiten handelte oder ob die Menschen
einfach Angst vor Bestrafung hatten.
Wir fragten Herrn Gelderblom, ob er während seiner Arbeit auf Widerstand
gestoßen sei und so sind wir in die Thematik eingestiegen, dass viele
Menschen versuchen, die Zeit des Nationalsozialismus zu verdrängen. Fünf
Jahre hat es gedauert, bis Herr Gelderblom erreichen konnte, dass eine
Gedenktafel am ehemaligen Hamelner Zuchthaus (das heute übrigens
düstererweise ein Hotel ist) aufgestellt wird.
Die Geschichte dieses Zuchthauses, in dem vor allem politische
Häftlinge, Homosexuelle und Rundfunkverbrecher festgehalten wurden,
brachte uns auf die Geschichte der Zwangsarbeiterin Maria Sabliwaja. Sie
war 15 Jahre alt, als sie auf Grund ihrer ukrainischen Herkunft
deportiert wurde. Herr Gelderblom konnte mit ihr Kontakt aufnehmen. Sie
ist in die Nähe ihres Geburtsdorfes zurückgekehrt und arbeitet nun dort
zusammen mit ihrer Familie. Mit Hilfen von Spenden, die vor allem von
Firmen kamen, die einmal selbst Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, holte
Herr Gelderblom Maria und andere Frauen aus der Ukraine zurück nach
Hameln, an den Ort, an dem sie viele Jahre ihres Lebens verbringen
musste.
Es ist unfassbar, was für Einzelschicksale sich hinter dem großen
Begriff des Nationalsozialismus verbergen. Herr Gelderblom hat viele
dieser Einzelschicksale für die Nachwelt wieder lebendig werden lassen.
Ich kann mich nur noch mal im Namen aller Projektteilnehmer auf diesem
Weg herzlich bedanken.
Anne Voß
Wir danken Herrn Gelderblom für das Gegenlesen des Berichts!
Zu dieser Veranstaltung finden sich in der Fotogalerie einige Aufnahmen.
Jazz(-Underground) und Politik in Berlin
Unser Projekttreffen am vergangenen
Montag (8.3.2010) war anders als die bisherigen: Auf einer großen Leinwand sahen
wir eine Diashow; Jazzmusik von Coco Schumann tönte aus den
Lautsprechern. In entspannter Atmosphäre sahen wir uns die Fotos von
unserem Wochenend-Workshop an, der unter dem Motto "Widerstand und
Zivilcourage – gestern und heute" vom 5.3. - 7.3.2010 in Berlin
stattfand.
Wer ist Coco Schumann? Dieser Frage gingen die Projektteilnehmer im
Learning Centers des Jüdischen Museums in der Lindenstraße nach.
Zu zweit oder zu dritt saßen die Schüler vor den Bildschirmen und
erarbeiteten die Lebensgeschichte des Jazzgitarristen Coco Schumann von
den Anfängen im Berlin der 20er Jahre bis heute. Die interaktive Arbeit
am Computer ermöglichte den Teilnehmern, die überzeugende multimediale
Informationspräsentation zu nutzen: Die Schüler füllten einen Fragebogen
über das Leben Schumanns aus und erfassten auf diesem Weg die
Entwicklung des Nationalsozialismus von den Anfängen mit den
Vorschriften und Verboten, die bald alle Lebensbereiche reglementierten,
bis zur Befreiung 1945.
Die anschließende Führung "Überleben mit Musik" beinhaltete auch ein
Gespräch mit Interpretationen über das Libeskind-Gebäude.
Das Jüdische Museum war für viele sicher eines der beeindruckendsten
Erlebnisse an diesem Wochenende.
Spannend empfanden viele Schüler auch die Sitzung im Plenarsaal des
Bundestags, den wir gleich nach unserer Ankunft am Freitagmorgen
ansteuerten. Die aktuelle Debatte um Hartz IV wurde hitzig
weitergeführt.
In den Bundestag eingeladen hatte uns der Bundestagsabgeordnete Dr.
Matthias Miersch, der unser Projekt unterstützt und durch seine
Einladung die Fahrt nach Berlin ermöglichte.
Im Besucherraum des Reichstages sprach Dr. Miersch mit uns über das
Projekt und zog den Bogen zur heutigen Politik; er gab uns Einblicke in
seine Arbeit und seine Auffassung von Politik. Eine interessante
Diskussion entstand.
Die anschließende Besichtigung der Reichstagskuppel war in zweifacher
Hinsicht ein besonderes Erlebnis: Die beeindruckende Architektur der
gläsernen Kuppel mit ihrer Stahlskelett-Konstruktion und der Blick auf
Berlin aus der Vogelperspektive.
Mit einer lebhaften Diskussion über Zivilcourage in der
Friedrich-Ebert-Stiftung am Abend endete der erste Tag.
Weitere Besichtigungen und Führungen standen auf dem Programm: das
Holocaust-Mahnmal unweit vom Brandenburger Tor und die Gedenkstätte
Deutscher Widerstand.
Corinna Luedtke
Gruppenbild mit dem Bundestagsabgeordneten Dr. Matthias Miersch (3.v.r.)
Wie die Schüler unseren Workshop empfanden und was ihnen wichtig war,
haben sie während der Rückfahrt nach Hannover festgehalten:
Carolin (18), Julia (13) und Svenja (18):
Für uns war das Wochenende in Berlin weitaus mehr als Shopping und
Party. Einfach gesagt, wir sind ins heutige Geschehen und in ein Stück
deutsche Vergangenheit eingetaucht. Besonders beeindruckt hat uns die
Vielfalt von Möglichkeiten, Geschichte darzustellen, z.B. der Garten des
Jüdischen Museums. Auch die Gründlichkeit war in unserer Hauptstadt
allgegenwärtig: Wir verbrachten viel Zeit damit, unsere Mäntel an- und
auszuziehen sowie Taschen und uns selbst durchleuchten zu lassen. Die
Menge an Sicherheitskontrollen in vielen öffentlichen Gebäuden war uns
in diesem Ausmaß nicht bekannt. Alles in Allem konnten wir, vor allem
Dank des sehr gut geplanten Programms (Kompliment an Frau Luedtke) eine
Vielzahl von Eindrücken für unser Projekt gewinnen - und hatten dabei
viel Spaß.
Anne (16):
Mir hat das Wochenende in Berlin sehr viel gebracht. Ich wurde öfter
durch diverse Sicherheitskontrollen geschickt, als in meinem ganzen
bisherigen Leben. Das zeigt so viel Misstrauen zwischen den Menschen und
eigentlich (egal, ob berechtigt oder nicht) sollte die Botschaft doch
eine andere sein.
Courage und Widerstand waren für mich schon immer sehr zentrale
Begriffe, denn ich habe selbst erfahren wie es ist, wenn man allein da
steht und wie das Menschen brechen kann. Genau deswegen sollte es mehr
Projekte wie das unsere geben - solange bis ALLE Folgendes verstanden
haben: Es ist wichtig, dass auch DU hinschaust und für DEINE
Überzeugungen eintrittst.
Marius (17), Björn (19), Daniel (19), Lara (19), Annalena (19):
Das Wochenende in Berlin hat uns
gezeigt, dass wir nicht vergessen.
Schon im Bundestag haben wir uns als Gruppe Gedanken gemacht und diese
mit Matthias Miersch austauschen können - sei es über Politik, unser
Projekt oder andere Fragen, die uns auf dem Herzen lagen. Vor allem aber
der Besuch im Jüdischen Museum hat uns eine spannende Auseinandersetzung
mit dem Holocaust und dem jüdischen Hintergrund geliefert.
Wir haben Berlin als Stadt genossen, aber nicht vergessen, dass Berlin
als Hauptstadt zwischen 1933 bis 1945 Schauplatz der
nationalsozialistischen Politik und dessen menschenverachtender
Vorgehensweise war.
Efi (19) und Dimitra (16):
Das Berlin-Wochenende war für uns ein Erfolg, da wir viele neue
Eindrücke gewonnen haben.
Durch das Gespräch mit Matthias Miersch konnten wir das Projekt
vertiefen und engeren Kontakt zu ihm knüpfen. Das jüdische Museum hat
uns sehr beeindruckt, denn wir konnten einen tiefgründigen Einblick in
das Leben der Juden während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
gewinnen. Das Thema des Workshops war hochinteressant und wir konnten so
neues Wissen erlangen.
Das Wochenende verhalf uns zur Erweiterung unseres Bildungshorizontes
und hat uns unvergessliche Momente erleben lassen.
„Damals wussten wir noch nicht, was Auschwitz ist“
Zeitzeugengespräch mit Henry Korman am 22.02.2010
Heute hatten wir erneut Besuch von den Herren Henry Korman und Salomon
Finkelstein – das lang erwartete Zeitzeugengespräch mit Henry Korman
stand auf unserem Terminkalender.
Henry Korman wurde am 30. März 1920 in der polnischen Stadt Radom
geboren, rund 100 km südlich von Warschau, deren Population 90.000
Menschen betrug. 30. 000 Juden lebten in dieser Stadt. „Schön“ und
„kulturell“, so hat Henry Korman die Stadt in Erinnerung, bevor der
Krieg ausbrach.
„ Es war eine Industriestadt mit vielen Fabriken, die Eisen, Leder und
Keramik produzierten“, erzählt Herr Korman. Juden und Polen haben in den
Fabriken zusammen gearbeitet. „Trotz großer Armut war das Leben schön“.
Henry Korman besuchte damals das jüdische Gymnasium, welches den
hebräischen Namen, übersetzt: „ Freunde des Wissens“ trug. Dort hatte er
die Möglichkeit Polnisch, Hebräisch, Deutsch, Englisch und Französisch
zu lernen, wobei Polnisch und Hebräisch die Hauptsprachen waren. Im
Jahre 1939 erlangte er sein Abitur mit dem Wunsch, Medizin zu studieren
oder Ingenieur zu werden. Doch der Numerus Clausus erlaubte nur 2
Juden auf 100 Polen ein Studium. Die Juden durften zwar nicht Mediziner
und Ingenieure sein, aber es war für sie möglich, ein Jura- oder
Lehramtstudium zu absolvieren. Später galt der Numerus Nullus für
Medizin und Ingenieurwesen sowie für weitere Studiengänge. Die Idee, im
Ausland zu studieren, kam hoch.
Jedoch brach am 1. September 1939 der Krieg aus. Polen wurde nach und
nach von der deutschen Wehrmacht eingenommen. Ein Studium war dann nicht
mehr möglich.
Gegen Mittag des 5. September trafen die Bomben einen Teil des Hauses
der Familie Korman. 30 Einwohner starben im Bombenhagel und viele
Menschen wurden verwundet. Herrn Kormans Familie hat den Angriff
überlebt.
Die Wehrmacht und die Militärpolizei (Schupos) plünderten die Geschäfte.
Zwei Tage später folgten SS und SD. Die grausamen Schikanen gegen Juden
begannen. Eine schreckliche Tat zum Beispiel war das Anzünden oder
Kahlscheren von Bärten älterer orthodoxer Juden. Die SS demütigte die
Juden. Sie holten sie aus dem Jüdischen Viertel und zwangen sie zur
Arbeit, verbunden mit unterschiedlichen Schikanen, Schlägen usw.
Die Besatzer verhängten Verbote über die Juden. Gesetzte und Erlasse
regelten das alltägliche Leben.
So durften die Juden nicht auf dem Bürgersteig gehen, sich nicht auf
eine Parkbank setzen und mussten vor der SS den Hut abnehmen. Im
Frühjahr 1941 wurde die Errichtung eines Ghettos angeordnet. Zwei
Ghettos, ein großes im Stadtzentrum und ein kleines im Vorort
Glinice.
„Die Juden mussten ihre Wohnungen auf Befehl der SS verlassen. Damals
wussten wir noch nicht, was Auschwitz ist“, sagt Henry Korman.
Die Internierung der jüdischen Bevölkerung war bis zum 7. April 1941
abgeschlossen. Vor dem Krieg lebten in Radom 30.000 Juden, rund ein
Drittel der Gesamtbevölkerung.
Bereits vor der Ghettoisierung wurde von den deutschen Behörden ein
Judenrat eingesetzt. Im Ghetto wurde ein Komitee mit Vorsitzenden
gewählt. Es gab verschiedene Ämter, wie Polizei, Arbeit,
Gesundheit. Henry Korman arbeitete im Gesundheitsamt.
Zu den täglichen Schikanen der SS gehörte es, Menschen aus dem Ghetto zu
holen und zu Arbeiten zu zwingen, oft unter schweren Misshandlungen. Die
Männer wurden in bewachte Arbeitslager in der Nähe von Radom geholt,
dort mussten sie für die Kriegsindustrie arbeiten. Der Judenrat wirkte
dem entgegen, indem ein Arbeitsamt im Ghetto eingerichtet wurde.
Freiwilligen konnte so Arbeit vermittelt werden, die, wenn auch nur
geringfügig, bezahlt wurde. Dennoch bot diese Neuerung keinen absoluten
Schutz. Die Menschen waren der Willkür der SS weiterhin ausgeliefert.
Sie wurden geschlagen, und manchmal kamen sie abends von der Arbeit
zurück und verbluteten an ihren Verletzungen.
Schulen gab es im Ghetto nicht, denn Juden war es verboten zu lernen.
Hinter verschlossenen Türen wurde den Kindern jedoch Privatunterricht
erteilt. Intellektuelle wurden in einer Reihe von „Aktionen“ der Gestapo
ergriffen, auf der Stelle erschossen oder nach Auschwitz deportiert.
Die Verpflegung im Ghetto wurde anfangs von der SS in kleinen Mengen
zugeteilt, doch schon bald wurde diese knapp. Die Todesrate, durch
Hunger und Seuchen bedingt, war hoch. „Die Menschen litten an Armut und
Hunger. Sie lagen sterbend auf der Straße. Um überleben zu können, haben
wir abends etwas von draußen hereingeschmuggelt.“
Die Bewohner durften nach einer Verordnung das Ghetto nicht mehr
verlassen, außer sie besaßen einen Passierschein oder gehörten zu den
Arbeitskolonnen, die außerhalb des Ghettos eingesetzt wurden. Die
Ausgangssperre war klar definiert: Ab 17 Uhr musste man sich wieder im
Ghetto in den Wohnungen befinden. „Es war verboten, sich nach 17 Uhr auf
den Straßen aufzuhalten. War noch jemand draußen, wurde er erschossen
oder erschlagen. Die SS lief herum und suchte sich Opfer. Wenn morgens
jemand tot auf der Straße lag, spielte dies keine Rolle.“
Da Henry Korman für das Amt „Fürsorge – Wohlfahrt“ im Resort Gesundheit
arbeitete, konnte er sich mit seinem Ausweis und einer speziellen
Armbinde auch außerhalb des Ghettos frei bewegen. Aber auch für ihn galt
die Regel, bis 17 Uhr wieder im Ghetto zurück sein zu müssen und seinen
Ausweis der Wache vorzuzeigen.
Trotzdem nahm er sich in Acht vor der SS aus Angst vor Misshandlungen
und versteckte sich, sobald er sie bemerkte.
Der Judenrat war auch verantwortlich für die Essensversorgung, er musste
die Unterbringung von Neuzugängen organisieren und regelte auch die
Aufstellung einer Ghetto-Polizei („jüdischer Ordnungsdienst“).
Henry Korman wurde eine Stelle als „jüdischer Polizist“ angeboten, doch
er lehnte ab mit der Begründung, dass er schließlich schon für die
Fürsorge arbeitete.
Am 19. Juli 1942 erteilte Heinrich Himmler den Befehl, alle Juden im
Generalgouvernement zu eliminieren. Bis zum 31. Dezember 1942 sollte es
keine Juden mehr geben außerhalb der Ghettos von Radom, Warschau,
Krakau, Lublin und Czestochowa. So wurden diese Ghettos kraft Gesetzes
zu Sammellagern, was in der Folge den Weg in die KZs bedeutete.
Im Juli 1942 wurde die Verwaltungsleitung des großen Ghettos deportiert
und gegen eine neue ausgetauscht.
Für Henry Korman war das der Zeitpunkt, die Arbeit im Gesundheitsamt
aufzugeben und sich freiwillig für die Arbeit in der Rüstungsindustrie
zu melden.
In der Waffenfabrik wurde er unter Bewachung ausgebildet. An speziellen
Maschinen fertigte er Patronenkammern für Gewehre her. Zwölf Stunden
dauerte sein Arbeitstag. Die Arbeit erfolgte in Wechselschicht. In der
einen Stunde Pause gab es eine Kelle Suppe.
Bis kurz vor der Liquidierung der beiden Ghettos konnte Henry Korman im
Ghetto mit seiner Familie zusammenwohnen.
Am 5.August 1942 gegen 5 Uhr morgens ertönten Schüsse und Schreie. Henry
Korman und seine Familie wurden aus ihrer Wohnungen herausgejagt. Auf
der Straße erwartete sie ein furchtbares Chaos: Vier bis fünf Straßen
waren abgeriegelt und die Bewohner auf die Straßen befohlen worden.
Bei der Aufteilung der Menschenmasse verlor Henry Korman seine Eltern
und drei seiner Schwestern, die vierte Schwester Goldi hatte ihn
entdeckt und war zu ihm gelaufen. Über die verlorengegangenen
Familienmitglieder sagt Herr Korman: „Ich habe sie zum letzten Mal im
Laufen gesehen. Sie sind verschwunden. Meine Mutter wurde wahrscheinlich
erschossen, da sie nicht so schnell laufen konnte.“
Etwa 2000 Menschen waren an diesem Morgen aus dem großen Ghetto zum
Bahnhof getrieben worden. Viele wurden auf dem Weg dorthin erschossen.
Die anderen wurden in geschlossene Waggons gepfercht und, wie Henry
Korman später erfuhr, nach Treblinka deportiert.
Henry Korman und seine Schwester konnten der Deportation entgehen, indem
sie sich in die Waffenfabrik gerettet hatten. Sie schliefen auf dem
Boden auf Stroh.
Erst in der Waffenfabrik erfuhr Henry Korman, dass auch das kleine
Ghetto geräumt worden war. Einige Stunden vor der Räumung der
Straßenzüge im großen Ghetto, um 2 Uhr morgens,
war es „liquidiert" worden. Wie Herr Korman hörte, war die SS
dort besonders hart vorgegangen: „Die SS
riss die Kinder von ihren Müttern weg, warf kleine Babys an die Wand und
Menschen, die noch im Bett lagen oder zu langsam
liefen, wurden erschossen. Für sie war es ein Sport“. Herr Korman
bezeichnet die „Liquidation“ als Massaker.
In der Waffenfabrik bekam Henry Korman eine Stelle zugewiesen, er musste
wieder Patronenkammern für Gewehre herstellen. Seine Schwester Goldi
arbeitete als Kartoffelschälerin. „Das war eine harte Arbeit unter
Bewachung ukrainischer und SS-Bewachung.“
Wenn sich die Zwangsarbeiter am Abend zum Schlafen auf den Boden legten,
führten sie Gespräche, weinten um ihre Familienmitglieder, die sie
verloren hatten und ahnten, dass sie sie niemals wiedersehen würden. So
ging es bis zum 15. August.
Ein SS-Leiter brachte Herrn Korman, seine Schwester und weitere Juden in
ihre alten Wohnungen im Ghetto, damit sie ihre persönlichen Sachen holen
konnten. Anschließend wurden sie zurück in die Waffenfabrik gebracht. In
ihre Wohnungen durften sie nicht zurückkehren.
Gleich am nächsten Tag, dem 16. August, wurde mit der Räumung des großen
Ghettos begonnen. Zunächst wurde der südliche Teil „liquidiert“, dann
der nördliche. Zwischen 1000 – 1500 Ghettobewohner, die sich zu
verstecken versuchten oder Widerstand leisteten, wurden sofort
erschossen. Die jüdische Polizei musste später alle Toten sammeln und
sie in einem Garten begraben. Am 18. August war die Aussiedlung
abgeschlossen.
Bei der Vernichtung des großen Ghettos waren etwa 2000 Menschen
übriggeblieben, sie wurden zu Zwangsarbeiten am Ort bestimmt. Auf dem
Gelände der aufgelösten Ghettos errichtete man über vier bis fünf
Straßen verteilt, Arbeitslager, in denen die Menschen untergebracht
wurden.
Henry Korman und seine Schwester wurden einer Gruppe zugeteilt, die in
der Waffenfabrik arbeiten mussten. Wie sich herausstellte, gab es
verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Arbeitsplätzen.
Schon bald war es Herrn Korman nicht mehr möglich, die schwere Arbeit zu
verrichten, obwohl Henry von seinem vorgesetzten Ingenieur große
Anerkennung für seine Arbeit bekommen hatte. Er litt an Hunger und war
zu schwach geworden, der harten Beschäftigung weiter nachzugehen.
Er flüchtete von der Waffenfabrik und versteckte sich 3 Wochen lang im
Arbeitslager. Er wurde überall gesucht. Nach Ablauf dieser drei Wochen
hatte man aufgehört, ihn zu suchen. So konnte er bei Verwandten
Unterschlupf finden, während seine Schwester weiterhin in der
Waffenfabrik arbeitete. Weil er nicht mehr gesucht wurde, konnte Herr
Korman sich relativ frei bewegen und auch wieder arbeiten. Er war in der
Keramikherstellung tätig, reaprierte LKWs in der Autoreparaturwerkstatt
und stach Torf.
Bevor Herrn Kormans Weg nach Starachowice führte, wurde er Zeuge eines
weiteren Verbrechens: Mehr als 150 Ärzte, Zahnärzte, Rechtsanwälte und
Ingenieure wurden mit ihren Frauen und Kindern im März 1943 aus dem
Ghetto geholt und auf zwei Lastwagen verladen. Intellektuelle sollten
nach Palästina zu ihren Verwandten ausreisen dürfen. Unter diesem
Vorwand wurden sie nach Szydłowiec, etwa 30
Kilometer südwestlich von Radom, gefahren. Auf einem jüdischen Friedhof
wurden weit über 100 Juden von Ukrainern auf Kommando der Deutschen
erschossen. Man weiß bis heute nicht genau, warum die Deutschen
plötzlich das Erschießungskommando eingestellt und 30 Juden nach Radom
zurückgebracht hatten.
Herrn Kormans Tage in Radom waren gezählt. Eines Morgens vor der
Arbeit wurde er mit 150 anderen Juden auf zwei LKWs nach Starachowice,
ca. 60-70 km von Radom, gebracht.
Dort arbeitete er für verschiedene Produktionsbetriebe und für die
Rüstungsindustrie stellte er Granathülsen für Haubitzen und schwere
Artillerie her.
Die Arbeit war körperlich sehr hart. Die Polen, die dort arbeiteten,
wurden bezahlt, die Juden haben nichts bekommen.
Herr Korman wurde in einer Baracke untergebracht mit Menschen, die
ebenso wie er aus Radom stammten. Es war möglich, sich selbst zu
verpflegen und zu kochen.
Als Henry Korman zufällig ein Gespräch zweier Männer aufschnappte,
erfuhr er, dass man seine Schwester aus Radom abgeholt hatte. Er musste
davon ausgehen, dass Goldi deportiert worden war und er sie
möglicherweise nie wiedersehen würde.
In Starachowice erkrankte er an Kopftyphus. Als Besuch vom
Lagerkommandanten angekündigt wurde, sprang Herr Korman mit 40 Grad
Celsius Fieber aus dem Fenster und versteckte sich, bis der Lagerleiter
wieder verschwunden war. Wäre Herr Korman in dem schlechten Zustand
entdeckt worden, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet.
Als er wieder gesund war, arbeitete er wieder, bis die Russen
näherrückten. Das war der Tag, an dem er nach Auschwitz deportiert
wurde.
Er saß drei Tage lang im Waggon, zusammengepfercht mit anderen Menschen
unter unmenschlichen Bedingungen, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne
Verpflegung, etliche Menschen starben während des Transportes. 25
Menschen hatten sich während der Fahrt vergiftet und waren im Waggon
gestorben.
Der Zug hielt an der alten Rampe in Auschwitz-Birkenau. Gerade
angekommen, begann die Selektion. Henry Korman hatte während der Reise
von der Hitze eine Entzündung am Bein bekommen, die sich infiziert hatte
und sichtbar rot leuchtete. „Rote Flecken bedeckten mein Bein und ich
musste nackt vor Mengele treten. Herr Korman hatte eine Idee, die ihm
das Leben rettete: „Ich habe meine Hose über meinen Arm gehalten und
konnte somit die roten Flecken bedecken. „Wenn man arbeitsfähig war,
bekam man gestreifte Häftlingskleidung und eine Nummer in den rechten
Unterarm eintätowiert, d. h. man wurde „registriert“ und dann zur Arbeit
geschickt. Ohne Nummer wurde man gleich ins Gas geschickt.“
Auschwitz-Birkenau war Vernichtungslager und KZ zugleich. Herr Korman
musste verschiedene Lagerarbeiten erledigen. Bis zu 800 Gefangene
hausten in den Baracken, deren Konstruktion auf einem Entwurf für
Pferdeställe basierte und für die Unterbringung von 52 Pferden angedacht
war. Es gab nur wenige sanitäre Anlagen, die zudem primitiv waren.
„Nachts lagen die Gefangenen auf dem kalten Steinboden und die Aufseher
sind ohne Rücksicht auf sie draufgetreten.“ Die kurzen Schlafenszeiten
reichten nicht aus, um sich von den Strapazen des Tages zu erholen.
Die Häftlinge waren den grausamen Behandlungen der SS-Bewacher und Kapos
ausgeliefert. Verstöße gegen die vielen Lagerregeln wurden mit harten
Strafen verfolgt. Diese Strafen haben viele Menschen nicht überlebt.
Zu essen gab es wässrige Suppe, ein kleines Stück Brot mit ein wenig
Margarine. Die minderwertige und ungenügende Ernährung und die schwere
Arbeit, die geleistet werden musste, hatten zur Folge, dass die Menschen
stark abmagerten. Bereits nach kurzer Zeit bestanden die Menschen nur
noch aus Haut und Knochen. „In den KZs schikanierten die SS-Leute und
die Kapos die Juden. Sie behandelten uns wie Aussätzige und wollten uns
verhungern lassen und vernichten.“
Ein eigenartiges Erlebnis beschäftigt Herrn Korman heute noch auf
besondere Weise: Zusammen mit etwa 200 anderen Juden wurde er an einem
Nachmittag gegen 15 Uhr zu einem Gebäude geschickt. Eine Zeit lang
mussten sie vor dem Gebäude stehen. Nach einer halben Stunde wurden sie
wieder weggeschickt. Später stellte sich heraus, dass dieses Gebäude
eine Gaskammer war. Warum die Häftlinge nicht in die Gaskammer kamen,
ist nie bekannt geworden.
Nach circa zwei bis drei Wochen musste Herr Korman mit etwa 300 anderen
Menschen aus seiner Baracke nach Buna-Monowitz marschieren. Auf dem
Platz angekommen, traf er zwei Freunde wieder: den Leiter der Jüdischen
Gemeinde in Radom und einen Schulfreund, der den Holocaust überlebte und
nach dem Krieg nach Brasilien auswanderte.
Henry Korman sah auf dem Platz drei SS-Leute an einem Tisch sitzen. Sie
suchten Tischler, Maler und Elektriker. Herr Korman sagte, er sei
Elektriker. Einem älteren Mann empfahl er, zu sagen, er sei Maler.
Dieser Mann überlebte und starb später im KZ Hannover-Mühlenberg.
Von Buna-Monowitz wurde Herr Korman mit vielen anderen Häftlingen auf
LKWs in eines der Außenlager des KZ Auschwitz, nach Laurahütte,
gebracht, um dort Baracken zu bauen.
In Laurahütte hatten die Gefangenen für die Rüstungsfirma Flakgeschütze
für Rheinmetall-Borsig hergestellt und setzten diese Arbeit später in
Hannover in den Hallen der Lindener Hanomag AG fort.
Ein Beispiel für die tägliche Schikane der Aufseher: Als Henry Korman
während der Arbeitszeit die Toilette aufsuchen musste, war diese
absichtlich von einem Wachmann abgeschlossen worden. In seiner Not
suchte sich Herr Korman einen Platz abseits. Der Wachmann schlug mit
seinem Gewehrkolben auf sein Bein, sodass er nicht mehr laufen konnte.
Der Meister hatte das gesehen und schrie den Wachmann an: „Wie kannst du
meinen besten Mann schlagen!“, und an Henry Korman gewandt, sagte er:
„Das nächste Mal kommst du zu mir.“
„Ab April 1944 leitete Quakernack das Nebenlager Laurahütte des KZ
Auschwitz III Monowitz. Dieses Lager, eine Gießerei und Berghütte der
Königs- und Bismarckhütte A.G, wurde im Januar 1945 im Zuge der
Evakuierung des KZ Auschwitz geräumt und die Häftlinge in das Außenlager
des KZ Neuengamme Hannover-Mühlenberg überführt. Dort mussten die
Häftlinge unter dem Lagerleiter Quakernack bei der Hannoverschen Motoren
AG (Hanomag)
für die Rheinmetall-Borsig AG Flakgeschütze produzieren. Nach der
Räumung dieses Lagers am 6. April 1945 gelangten die Häftlinge unter
Quakernack nach einem „Todesmarsch“ am 8. April 1945 in das KZ
Bergen-Belsen, welches am 15. April 1945 befreit wurde.“ Quelle:
Wikipedia
Henry Kormans Weg vom KZ Laurahütte nach Hannover Mühlenberg führte über
das KZ Mauthausen in Österreich und Gusen, einem der vielen Außenlager
des KZ Mauthausen. Im KZ Mauthausen und auch im Außenlager Gusen galt
das Prinzip der Vernichtung durch Arbeit der KZ-Häftlinge. Henry Korman
lebte dort unter schlimmsten Bedingungen.
Von Gusen kam er in das KZ Hannover-Mühlenberg, wo er unter Bewachung
der SS mit etwa 500 anderen Gefangenen Flakgeschütze produzieren musste.
Auch hier war die Arbeit hart. Herr Korman hat unfassbare Grausamkeiten
erlebt, aber er hat auch Menschlichkeit erfahren. Im KZ Mühlenberg
flüsterte ein deutscher Arbeiter ihm des Öfteren zu: „Aushalten! Es
dauert nicht mehr lange!“ Dieser Mann brachte Herrn Korman mit dem
Risiko, hart bestraft zu werden, jeden Tag etwas zu essen mit. Mal ein
Brot mit Schinken, ein Stück Käse oder eine Kartoffel.
Das KZ Mühlenberg wurde am 6. April 1945 geräumt. Der Lagerkommandant SS
Oberscharführer Walter Quakernack, zuvor Leiter des Außenlagers
Laurahütte, wurde nach dem Krieg zum Tode verurteilt und in Hameln
hingerichtet.
Vom KZ Mühlenberg aus trat Henry Korman den Todesmarsch nach Bergen-
Belsen an, das er am 8. April erreichte. Zahlreiche Gefangene, die
schwach und gebrechlich waren, wurden auf dem Weg ermordet.
„Wer nicht gehen konnte oder krank war, wurde erschossen. Ich kam
halbtot in Bergen- Belsen an. Das Erste, was wir dort sahen, waren die
Toten, die überall auf dem Boden lagen, ganze Berge von Toten.
Die Gefangenen mussten in Baracken leben und bekamen am Tag nur eine
Suppe und ein Stückchen Brot.
Bis zur Befreiung am 15. April 1945 war ich fast tot. Ich konnte nicht
mehr gehen, essen, sitzen. Das Schlimmste war der Hunger. Selbst
Krankheiten waren nicht so schlimm wie der Hunger“, erzählt Henry Korman.
Herr Korman war mittlerweile so geschwächt, dass er sich innerlich vom
Leben verabschiedete. Unheilvolle Gedanken quälten ihn in seiner
Abschiedsstunde und das Bewusstsein, als Jude Teil der
Vernichtungstragödie zu sein, vom Rest der Welt allein gelassen worden
zu sein. „Die Welt hatte sich mitschuldig gemacht. Wir blieben allein
mit dem Sterben und mit der Vernichtung. Wir litten alleine und kämpften
alleine.“
Als gläubiger Jude stellte er Gott die Fragen: „Wo bist du? Warum hast
du dein Gesicht versteckt? Die Menschheit hat uns aufgegeben, und du
auch? Unzählige Juden wurden vernichtet und du hast es zugelassen.“ Herr
Korman konnte im Moment des nahenden Todes kein Kaddisch sprechen, weil
er meinte, dass Gott sich abgewendet hätte.
In den scheinbar letzten Minuten seines Lebens sah Herr Korman sich
schon zwischen all den Toten liegen. Er hatte aufgegeben, konnte nicht
mehr aufstehen. Wie in einem Film zog sein Leben an ihm vorüber, er sah
er sein Zuhause, seine Eltern, seine Geschwister. Er fragte sich, warum
sich niemand für das Leid der Juden interessierte.
„In dem Augenblick kam mein Freund zu mir und wollte mich zurück ins
Leben holen. Er rief voller Freude: „Aufstehen, die Engländer sind hier!
Wir sind befreit!“ Doch ich war zu schwach und sagte ungläubig: „Lass
mich hier liegen.“
„Nein!“, rief mein Freund und hob mich auf.“
Die Nachricht der Befreiung aktivierte nach und nach Herrn Kormans
Lebenswillen.
Später lief er nach draußen auf das Feld, grub drei Kartoffeln aus und
spießte sie auf, um sie zu braten. Eine Frau tippte ihm auf die
Schulter. Es war seine ehemalige Nachbarin aus der Heimatstadt Radom.
Sie sagte ihm, dass seine Schwester Goldi seit drei Jahren in
Bergen-Belsen lebte. Auch sie hatte den Naziterror überlebt.
Als Herr Korman später in den Baracken nach Kleidung und Essen suchte,
traf er auf grausame Bilder, die er Zeit seines Lebens niemals vergessen
wird: „Überall lagen die Toten wie Sardinen übereinander.“
In Bergen-Belsen starben etwa 50.000 KZ-Häftlinge und 20.000
Kriegsgefangene.
Henry Korman gelang es, nach der Befreiung als Kranker nach Schweden zu
kommen und dort zu studieren. Später lebte er bei Verwandten in Amerika.
Nach Deutschland kam Herr Koran zufällig. Heute lebt er abwechselnd in
den USA und in Deutschland.
Die anschließende Fragerunde bot den Projektteilnehmenden die
Gelegenheit, den Holocaustüberlebenden Fragen zu stellen, die ihnen auf
der Seele brannten:
„Haben Sie damals daran gedacht, sich umzubringen?“
Salomon Finkelstein:
„Nein! Ich habe nie daran gedacht, mich umzubringen, denn damit hätte
ich ihnen einen Gefallen getan. Ich wollte leben. Ich habe davon
geträumt, vielleicht noch einmal über eine Blumenwiese zu spazieren,
ohne dass die SS hinter mir her ist. Ich habe nur von Menschlichem
geträumt. Ich habe geträumt, einmal im Leben satt zu werden und einem
Mädchen den Arm zu streicheln. Ich habe versucht zu überleben. Polen
hatten die Möglichkeit, in deutscher Sprache nach Hause zu schreiben.
Dafür, dass ich für sie übersetzt habe, bekam ich ein Stück Brot.“
Henry
Korman:
„Ich hatte keine Zeit, an mich zu denken. Ich wurde von einem Ort zum
nächsten getrieben. Nachts, wenn ich auf der Pritsche lag und Zeit zum
Nachdenken hatte, bin ich vor Müdigkeit und Hunger eingeschlafen.“
„Konnten
Sie nach dem Krieg ein normales Leben führen?“
Salomon Finkelstein:
„Bis heute lebe ich nicht normal. Ich funktioniere nicht richtig. Sechs
Jahre unter Bewaffnung geraten nicht so leicht in Vergessenheit, das
bleibt hängen. Diese Zeit hat Spuren hinterlassen. Noch Monate nach dem
Krieg und der Befreiung habe ich mich umgedreht, um zu sehen, ob jemand
da ist mit einer Waffe und mich verfolgt. Wenn ich heutzutage höre, dass
sich jemand selbst in die Luft sprengt, empfinde ich kein Mitleid, denn
als wir damals im Dreck lagen und vor Hunger starben, hat sich niemand
für uns eingesetzt, sich um uns gekümmert. Wir haben jede Sekunde den
Tod gesehen. Wir waren verdammt zum Leben und zum Sterben.“
Wir sind den beiden Herren Korman und Finkelstein sehr dankbar, dass sie
mit uns ihre Erinnerungen teilten und uns an ihrem Leben und Leiden
teilhaben ließen. Ihre Erzählungen sind für uns sehr wertvoll, viele der
qualvollen Erlebnisse fließen als Motive in unsere Texte ein. Wir freuen
uns über jeden Besuch der Herren in unserer Schreibwerkstatt und auch
außerhalb der Schule, da es durch sie möglich ist, die Geschichte
„lebendig“ zu erfahren.
Efi Dermitzaki und Corinna Luedtke
Wir danken Henry Korman herzlich für das Gegenlesen dieses Berichtes,
für Korrekturen und für zahlreiche Ergänzungen.
Eindrücke, Impulse und Resultate zum Besuch der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem in Hannover im Rahmen des Wochenendworkshops am 9./10.1.2010
„Judentum in Hannover – eine lokale Spurensuche“
Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Niedersachsen im
Rahmen des Projektes „Schreiben gegen das Vergessen“ in Kooperation mit
der Projektleiterin Corinna Luedtke
Anhand der nachstehenden Leitgedanken reflektierten die Teilnehmenden
vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen und als Vertiefung des Erlebten in
den nachfolgenden Berichten ihre Eindrücke und Gedanken zur ehemaligen
Israelitischen Gartenbauschule Ahlem.
Leitgedanken:
Ø
Wandel in der Stätte
Hoffnungsvoll -> tragisch gewendet
Ø Wahrnehmung eines schrecklichen Ortes
Ø
Regionaler Bezug weist auf die Geschichte der Vernichtung
(auch vor unserer Haustür)
Bericht von Joshua, Sumera und Magdalena
Zuallererst lässt sich sagen, dass für uns der Besuch der Gedenkstätte
Ahlem eine neue Erfahrung war, die für uns sehr interessant war, aber
uns auch nachdenklich gemacht hat.
Wir konnten uns in die Situation der Juden, gerade der Juden, die in der
Gartenbauschule gelehrt wurden, hineinversetzen.
Die Pläne, die Träume und die Hoffnung, die die Juden hatten, wurden
alle vom Nationalsozialismus zerstört.
Es ist für uns schwierig, sich vorzustellen, dass der Terror der
Nationalsozialisten auch vor unserer Haustür stattgefunden hat. Die
Juden konnten auch nicht glauben, dass aus einem zivilisierten und
aufgeklärten Land wie Deutschland ein antisemitischer Staat entstehen
würde. Aus diesem Grund sahen viele Juden keinen Grund Deutschland zu
verlassen, da sie auch keine großen Alternativen hatten, wohin sie
auswandern hätten können.
Zudem fühlten sich viele Juden als Deutsche und haben im 1. Weltkrieg
für Deutschland gekämpft.
Darüber hinaus beherrschten sie nicht unbedingt die Fremdsprachen, die
sie für eine Emigration vielleicht als notwendig erachteten.
Es war für uns beunruhigend und bedrückend an einem Ort zu sein, an dem
solch schreckliche Dinge passiert sind.
Zu wissen, dass an dem Ort, wo man sich befindet, Menschen gefoltert und
getötet wurden, ist ein grausames Gefühl.
Es war für uns aber auch schwierig zu realisieren, dass so etwas
wirklich einmal geschehen ist.
Von Anne, Dimitra, Efi, Julia und Kerstin
Eindrücke
· überraschend, wie nahe beteiligt!
· mitten in der Region: Jugendhaus in dem gefoltert wurde, Anwohner , die sich über Schreie beschwert haben, aber das Unrecht nicht verhinderten
· unscheinbares Gebäude, an dem man vorbeifährt
· Änderung der Judenpolitik; Zeichen der Zeit erkannt :Englisch gelehrt und Kinder zum Auswandern animiert/ermutigt
· Gestapogebäude mit „hauseigenem Galgen“ im Garten
Wandel in der Stätte :
· Vom Hoffnungsvollen zum Tragischen
· Schule, die Juden „unerwünschte“ handwerkliche Berufe lehrt
· Schule geschlossen; Gestapogebäude
· Folter, Verhöre, geplante Morde
· Sammelplatz für Deportationen
· zynisch, ehrlos
Wahrnehmung eines schrecklichen Ortes :
(Folter)
· trotz vergangener Zeit: Kälte, Angst
· hautnahes Nachvollziehen
· Zahlen, kaum fassbar
Regionaler Bezug weist auf die Geschichte der Vernichtung, auch vor unserer Haustür
· nachvollziehbar, dass auch in Hannover /Umgebung die NS-Diktatur präsent ist
· das Wort „bundesweit“ bekommt andere Dimensionen
· Einzelschicksale und das große Ganze
· 27 gleiche Nachnamen
· Systematische Ausrottung
· Familien „verschwinden“
· Gründlichkeit; fast paranoider Art
· Führung führt das Geschehene besser vor Augen
Von Daniel, Björn und
Lara
Gartenbauschule:
· perspektivbildender Ort
· Ausbildung für Gärtner (neue Hoffnung)
· Geschichte wird personenbezogen aufgearbeitet und wird dadurch authentischer
· Geschichte wird regionalbezogen vermittelt, dennoch werden Verweise auf komplexe Zusammenhänge gegeben
· Bruch in der Zeit (Hoffnung schwindet) , da Schule in ein Außenlager umfunktioniert wird
· Deportationsort für viele Juden aus der Region Hannover in den Osten (Riga usw.)
· es zeigt besonders, dass auch in Orten wie diesen viel Gewalt herrschte (nicht nur in den eigentlichen KZs)
· Systematik der Gedenkbücher
· Haus – unscheinbar – geschichtsträchtig
· könnte ein Wink sein, hinter die Fassaden zu schauen und seine Augen für das vermeintlich Unscheinbare, aber elementar Wichtige zu öffnen
Bestürzung :
· Dicke Stahltür strahlt Kälte und Ausweglosigkeit aus
· Schreie drangen bis zur anderen Straßenseite hinüber
· warum haben Einwohner sich nicht dagegen eingesetzt?
· Unterdrückung: Gestapo infiltrierte Gesellschaft
· Hygieneverhältnisse damals: heute kaum vorstellbar
· Heutzutage sogar Internat in einem Haus mit einem solch erschreckenden Hintergrund untergebracht
Aktuelle Tagesthemen stehen viel zu häufig auf unserem Programm, wie ich selber finde. Es gibt auch heutzutage noch viel zu viele Anlässe, auf die nationalsozialistischen Organisationen zu schauen, denn sie sind gegenwärtig und eben auch alltäglich. Das hat uns heute Anlass gegeben, eine Diskussion über den Deutschen Nationalstolz und die Neonazis von heute zu führen. Endgültig einig konnten wir uns natürlich nicht werden – ich kann hier nur meine Meinung wiedergeben. Ich persönlich finde nämlich, dass es an der Zeit ist, die Vergangenheit aus der Distanz zu betrachten. Damit meine ich natürlich nicht, alles unter den Teppich kehren zu wollen – niemals! Aber es ist Zeit, zu registrieren, dass etwas Grässliches und vor allem Unwiderrufliches in Deutschland passiert ist, ohne die jüngere Generation, die eine andere ist, schuldig zu sprechen. Wir sind keine Nazis! Und genau aus diesem Grund finde ich es unfair, uns immer noch als solche zu beschimpfen. Ja, wir sind Deutsche und ja, wir teilen eine Vergangenheit, die grausamer nie hätte sein können. Aber es ist genug! Ich finde, wir sollten nicht mehr gegenseitig mit dem Finger auf uns zeigen, sondern gemeinsam die Vergangenheit aufarbeiten und dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen aufgeklärt werden. Das einzige Ziel sollte es doch sein, Ähnliches zu verhindern. Dafür stehe ich – genauso wie viele andere unserer AG – ein.
Anne Voß
In unserer Schreibwerkstatt haben wir heute die ersten Ideen besprochen. Nachdem wir uns ja wirklich schon ausführlich mit der Zeit, mit der wir uns auseinandersetzen wollen, beschäftigt haben, sind die Ideen sogar schon etwas konkreter ausgefallen. Aber an dieser Stelle möchte ich gar nicht so viel verraten! Freut euch auf Liebesgeschichten, Gedichte und Berichte! Wer weiß: Gibt es ein Happy End? Bleibt uns einfach treu… J
Anne Voß
Heute haben wir, in Begleitung des Bürgermeisters Herrn Prinz, die „Stolpersteine“ in Gleidingen, Laatzen, besucht. Die Stolpersteine befinden sich auf dem Fußgängerweg gegenüber der Straßenbahngleisen Richtung Gleidingen-Mitte.
Herr Prinz hielt uns einen detaillierten Vortrag über die Geschichte dieser Stolpersteine, welche zur Erinnerung an eine während des Nationalsozialismus ermordeten jüdischen Familie verlegt wurden.
„Es sollen aber vorrausichtlich noch weitere Stolpersteine hier verlegt werden für die anderen jüdischen Familien, die hier gelebt haben“, so der Bürgermeister.
Auch Frau Fredebold, die einige Wochen zuvor in unserer Schreibwerkstatt einen Vortrag hielt, hat sich für die Verlegung von Stolpersteinen in ihrem Wohnort Rössing zur Erinnerung an das Schicksal jüdischer Mitbürger eingesetzt.
Selbstverständlich wollen auch wir, dass weitere Stolpersteine verlegt werden zum Gedenken an die ehemaligen jüdischen Mitbürger, die einst in Gleidingen lebten und von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Dimitra Dermitzaki
"Es gibt noch
Menschlichkeit"
Am 26.10.2009 hatten wir bei
uns in der Schreibwerkstatt Herrn Salomon Finkelstein und Henry Korman zu
Besuch. Frau Kruse und Herr Dr. Miersch empfingen unsere Gäste herzlich
und hielten jeweils eine kleine Ansprache, wobei sie betonten, dass man
ihre Erinnerungen bewahren sollte, damit die Verbrechen der Nazizeit nicht
in Vergessenheit gerieten.
Während der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte wurde Herr Finkelstein
geboren, der selbst das Vernichtungslager überlebte. Im Jahr 1922 kam Salomon
Finkelstein als zweiter Sohn im polnischen Lodz zur Welt. Er verbrachte dort
seine Kindheit - "die schönste Zeit in meinem Leben", wie er uns mit einem
Lächeln verrät.
17 Jahre später, im Jahr 1939, waren die deutschen Truppen im Anmarsch.
Polen wurde von zwei Ländern besetzt: im Westen von Deutschland und im Osten
von Russland. "Die SS brachte nur Unglück und Tod."
Damals war die Stadt so groß wie Hannover, ein Drittel der Bevölkerung
war jüdisch. Für die Juden gab es viele Verbote: Es war ihnen bei Strafe
untersagt, auf dem Bürgersteig zu gehen, oder sich auf eine Parkbank zu
setzen. Alle Juden mussten einen "Judenstern" tragen. Später wurden sie in ein Ghetto getrieben,
wo sie gefangen waren und vor Hunger starben. "Die Menschen waren so schwach,
sie konnten nicht gerade stehen. Wie Schatten stützten sie sich an den Wänden
ab. Ein Mensch hat auch Grenzen", betont Herr Finkelstein.
Außerhalb des Ghettos musste man sich zur Arbeit melden, so ist Herr Finkelstein
in einen Lastwagen gestiegen und verabschiedete sich von seiner Mutter.
"Ich habe sie nie wiedergesehen."
Herr Finkelstein wurde zu Zwangsarbeiten an der Reichsautobahn in der Gegend
von Frankfurt an der Oder eingesetzt. Anfangs war er noch zu schwach und
wurde daher in den Küchendienst zum Kartoffelschälen abgestellt. Als er
sich erholt hatte, ging er zur Arbeit. Seine Aufgabe war es, die Hügel abzutragen,
den "Mutterboden", denn so entstand eine Fläche, auf der man schließlich
den Asphalt auftragen konnte.
Da es Herrn Finkelstein anfangs noch nicht gelang, den Boden abzutragen,
wurde er verprügelt, bis er es schaffte, den „Meister“ zufriedenzustellen.
"Man konnte sich anstrengen, wie man wollte: man hat nie Anerkennung bekommen",
sagt er traurig.
Salomon Finkelstein wurde von einem Lager in das nächste gebracht. Als er
sich am rechten Arm verletzte, trug er ein Paket mit seiner linken Hand
und das andere mit dem Mund.
Die Juden wurden in Konzentrationslager gebracht und von dort aus nach Auschwitz.
Als Häftling besaß er über 2 Jahre lang keinen Namen, nur die Häftlingsnummer,
welche er auf seinen Arm tätowiert bekommen hatte. "Man hatte mir alles
abgenommen, geblieben war mir nur meine Würde, mein Familienname."
Seine Eltern hatten kein richtiges Grab bekommen, sondern wurden in einem
Massengrab beerdigt. "Ich konnte nicht zum Grab meiner Mutter gehen und
sagen: Mama, hilf mir!", beklagt er mit spürbarer Erregung in der Stimme.
In Auschwitz mussten die Häftlinge einzeln nackt vor den gefürchteten deutschen
KZ-Arzt Joseph Mengele treten. Die Menschen wurden aussortiert. Nach links
wurden diejenigen geschickt, die noch Arbeit leisten konnten, und nach rechts
die Kranken und Verletzten. Salomon Finkelstein stand in diesem Augenblick
vor dem deutschen Arzt, der sich auch dem Eid des Hippokrates verpflichtet
hatte, dass er Menschen kein Leid zufügen würde.
Da Herr Finkelstein zuvor die halbfertigen Bauten gesehen hatte, meldete
er sich als Maurer, obwohl ihm jegliche Art von Arbeitserfahrung fehlte.
"Ich entwickelte einen 6. Sinn", erinnert er sich lächelnd.
Im Januar 1942 wurde in der Villa am Wannsee "die Endlösung der Judenfrage"
beschlossen. Salomon Finkelstein war damit zum Tode verurteilt. "Ich wusste,
dass ich lebend nicht herauskommen würde." Man hatte den Häftlingen alles
genommen, „auch das letzte bisschen Verstand“. Sie lebten und bewegten sich
nun instinktiv wie Tiere.
Zwei Jahre vergingen in Auschwitz. Herr Finkelstein war dort in Baracken
untergebracht. Über dem Tor stand die zynische Aufschrift "Arbeit macht
frei." Herr Finkelstein sagt: "Es müsste dort stehen: Wenn du dieses Tor
betrittst, lass die Hoffnung fahren."
Die Ärzte selektierten die Häftlinge, die Aussortierten wurden nie wieder
gesehen.
Auschwitz war ein Synonym dessen, was Menschen Menschen antun können. Mit
seinem letzten Sinn dachte Herr Finkelstein noch an eine Rettung.
Auch Kinder kamen nach Auschwitz, die Erinnerung an deren Schicksal berührt
ihn am meisten.
Mit einer Mischung aus Spott und Verwunderung erzählt Herr Finkelstein,
dass manche Nazis sich für menschlich hielten, wenn sie zuerst der Mutter
das Kind aus den Armen rissen und sie danach unverzüglich erschossen, damit
diese nicht sehen konnte, wie ihr Kind ebenfalls umgebracht wurde.
Im Januar 1943 wurde Auschwitz Buna - Monowitz aufgelöst. "Sechs Jahre hatte
ich unter den Nazis erlitten."
Dann berichtet Herr Finkelstein von dem siebzig Kilometer langen Marsch.
Herr Finkelstein war müde und schwach, genauso wie alle anderen Mitmarschierenden
auch. Wer zu schwach war, um mitzuhalten und weiterzugehen, wurde erschossen.
Die Häftlinge waren in Waggons geladen und hatten zwei bis drei Tage nichts
zu trinken und zu essen. Die Hauptsache war, dass die Häftlinge nicht in
die Hände der Alliierten gelangen. Herr Finkelstein erinnert sich an einen
Moment, als die Tschechoslowaken ihnen aus Mitleid und Brüderlichkeit Brot
zuwerfen wollten, die SS jedoch drohte, sie zu erschießen.
Herr Finkelstein wurde ins Lager "Dora" gebracht. Dort freundete er sich
mit seinem Mithäftling "Abraham" an. Weiterhin erzählt uns unser Gast von
einem bewegenden Moment, als er so schwach war, dass er sich nicht mehr
rühren konnte. "Jetzt hat deine letzte Stunde geschlagen", sagte er zu sich
selbst. Als er fast schon die Hoffnung aufgegeben hatte, hörte er ein Klopfen
am Fenster. Mit seiner letzten Kraft schlich er dorthin, wo sein Freund
Abraham stand. "Salek", sagte dieser, "Ich habe dir eine Kartoffel mitgebracht."
Da wusste Herr Finkelstein: "Es gibt doch noch Menschlichkeit." Bis zur
Auflösung des Lagers arbeiteten sie im Tunnel.
Nach 38 Jahren erfuhr Salomon Finkelstein, dass sein jüngerer Bruder den
Krieg überlebt hat und in Israel ein Kibutz gegründet hat. Als dieser ihn
anrief, ist Herr Finkelstein in Ohnmacht gefallen. Sofort informierte er
seine Tochter, die ihn spontan nach Israel begleitete. Dort sah er jenen
geliebten Bruder wieder, den er verließ, als er noch ein Kind war.
"Wir bleiben immer verbunden, denn was uns verbindet, ist die gemeinsam
verbrachte Kindheit, die in Erinnerung geblieben ist."
Herr Finkelstein bekam jedoch auch eine schockierende Nachricht, als er
erfuhr, dass ein weiterer, drei Jahre älterer Bruder ebenfalls überlebt
hatte, aber bereits 1996 gestorben war, ohne zu wissen, dass Salek überlebt
hatte! Sie lebten die ganzen Jahre über nur drei Flugstunden voneinander
entfernt, und keiner von beiden wusste, dass der andere noch am Leben war.
"Einzelschicksale sagen mehr als Statistiken", mit diesem Satz schließt
Salomon Finkelstein seine Erzählung ab.
Wir werden Herrn Finkelstein und Herrn Korman bald um einem weiteren
Besuch in unsere kleine Schreibwerkstatt bitten, da Herrn Finkelsteins
Erzählung sehr detailliert, informativ und auch berührend für uns war
und wir noch weitere Einblicke in das Leben unter der
nationalsozialistischen Diktatur gewinnen wollen. Das nächste Mal wird
dann Henry Korman über seine Erlebnisse während der Nazidiktatur
sprechen.
Efi Dermitzaki und Dimitra Dermitzaki
Schülerprojekt
"Schreiben gegen das Vergessen": Zeitzeugen erinnern an den Holocaust
Teilweise
mit Tränen in den Augen lauschten die anwesenden Schüler den Schilderungen
von Finkelstein und Korman, die anhand ihrer eigenen Schicksale die Geschichte
der Judenverfolgung im Dritten Reich zum sprechen brachten.
Hier
der vollständige Bericht:
www.matthias-miersch.de
Während
des heutigen Projekttreffens haben wir das Zeitzeugengespräch mit den beiden
Holocaustüberlebenden Salomon Finkelstein und Henry Korman vorbereitet,
das am nächsten Montag stattfinden soll.
Nachdem wir uns einige Fragen überlegt haben, die wir unseren Gästen stellen
möchten, haben wir den nächsten Teil der von Roman Polanski verfilmten Autobiografie
des Pianisten Wladyslaw Szpilman "Der Pianist – mein wunderbares Überleben"
gesehen.
Der Film zeigt sehr eindrucksvoll das Leben der Juden im Warschauer Ghetto
und wie bestialisch und grausam die Juden von den Nazis behandelt wurden.
Da Salomon
Finkelstein mit Wladyslaw Szpilman befreundet war und dieser mehrmals in
Hannover war, berührt der Film auf besondere Weise.
In der
nächsten Projektstunde wollen wir in dem Gespräch auch mehr über den Pianisten
und seine Verbindung zu Salomon Finkelstein erfahren.
Mit etwas dezimierter Zahl haben wir die heutige Stunde genutzt, um uns einen Film anzusehen, der wunderbar zu unserem Hauptthema passt: Der Pianist. Die Verfilmung des autobiografischen Romans "Der Pianist – mein wunderbares Überleben" von Władysław Szpilman erzählt die Geschichte seines Entkommens zur Zeit der Besetzung Polens durch die Nationalsozialisten. Als angesehener Pianist muss er sich wahrlich umstellen, als er und seine Familie ins Warschauer Ghetto ziehen müssen. Sein Alltag ist ein völlig anderer, doch wie es weitergehen wird, konnten wir uns noch nicht ansehen. FORTSETZUNG WIRD FOLGEN!
Anne Voß
Die Zeitzeugin Helga Fredebold berichtet von den Kriegsjahren in Hannover
Am Montag, den 21.9.09
war Frau Fredebold, eine Zeitzeugin des zweiten Weltkriegs in unserer Schreibwerkstatt
in der Albert-Einstein-Schule in Laatzen zu Besuch. Helga Fredebold hat
u. a. das Buch „Geschichte und Geschichten aus Rössing “ geschrieben und
veröffentlicht, in dem sie den Spuren der jüdischen Familie Blumenthal nachgegangen
ist. Sie erzählte uns über ihre Kindheit vor dem Krieg und ihre Jugend während
des Kriegs, wofür sie ganze zwei Schulstunden Zeit hatte, welche sie dann
auch nutzte. Selbstverständlich hatten wir die Gelegenheit Fragen zu stellen,
aber das erübrigte sich größtenteils, da Frau Fredebold den Verlauf der
miterlebten Ereignisse so schilderte und erzählte, dass viele unserer Fragen
automatisch beantwortet wurden.
Frau Fredebold wurde 1926 in Hannover geboren. Unser Gast erzählte uns dann
auch von ihrer Kindheit in ihrer Geburtsstadt. Sie ging in Hannover zur
Schule und war auch Mitglied des BDM (Bund Deutscher Mädchen). Sie selbst
hatte nicht viele jüdische Bekannte oder Freunde; nur zwei Nachbarinnen
und zugleich Spielkameradinnen, die für sie den gleichen Stellenwert wie
die anderen Mädchen hatten.
Nach der Schulzeit vernachlässigte sie ihre Pflichtteilnahme an den Treffen
des BDM. Durch die Hilfe, die sie als Pflichtjahrmädchen (alle Mädchen,
auch Abiturientinnen, mussten ein Haushalts-Pflichtjahr oder ein halbes
Jahr weiblichen RAD, Reichsarbeitsdienst, ableisten)
im Haushalt und Geschäft leisten musste, hatte sie keine Zeit dafür – und
auch nicht immer Lust. Während des Kriegs besuchte sie die Chemieschule
in Hannover. Nach dem Ende der Ausbildung war allerdings auch der Krieg
zu Ende; sonst hätte sie wieder dem BDM beitreten müssen, da die Mitgliedschaft
in einer Organisation Pflicht war. Wer über einen langen Zeitraum nicht
zum Dienst erschien, musste gute Gründe für sein Fehlen angeben, da schließlich
nachgefragt wurde. Diesen Job hatten meist die Führer der einzelnen Gruppen,
und auch Frau Fredebold ging eine Zeitlang dieser Tätigkeit nach. Alle Anwesenden
durften sich ihr Leistungsbuch des BDM und ein Fotoalbum mit Bildern der
damaligen Zeit von Familie und Freunden ansehen.
Frau Fredebold erzählte auch, dass die Hochschulausbildung der Frauen nicht
gefördert wurde. Sie durften zwar Jura studieren,
nur nicht als Richter oder Anwälte arbeiten. Auch das Medizinstudium war
nicht verboten. Nur durch das lange Studium, das noch durch Haushaltsjahr
usw. verzögert wurde, erreichten wenige das Ziel.
Wegen der vielen Luftangriffe, bei denen Flugzeuge mehr als viele 1000 Brand-
und Sprengbomben über Hannover fallen ließen, gab es einen Voralarm, der
allen Bürgern bekannt war, und der sie sozusagen zur Vorbereitung ihres
Rückzuges in Kellerräume oder Luftschutzbunker antrieb. Etwas später ertönte
dann der Hauptalarm, bei dem sie dann augenblicklich ihre Wohnungen verlassen
mussten. Frau Fredebold bekam selbst weit nach dem Kriegsende noch Angst,
sobald sie ein Flugzeug oder einen Hubschrauber hörte. Die vielen Luftangriffe
hatten sie traumatisiert.
Das Kriegsende war, trotz der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands,
für die Menschen eher erleichternd und tröstlich. Die Menschen konnten endlich
wieder ohne Angst schlafen, aber es herrschte große Hungersnot.
Zur Pogromnacht befragt, berichtete Frau Fredebold, dass viele Fenster von
jüdischen Geschäften eingeschlagen und Schilder aufgehängt wurden, auf denen
stand: "Wer beim Juden kauft, ist Landsverräter", welche die Leute vom Kauf
in besagten Geschäften abhielten und die Stigmatisierung der Juden förderte.
Genauso wie wir heute, fragte sich Frau Fredebold, wie es zu solch einem
Volkshass kommen konnte. Durch Recherchen in Archiven und Geschichtsbüchern
versuchte sie eine Antwort auf diese Frage zu finden. Auf diese Weise fand
sie eine Menge heraus, was zur Aufklärung der Entstehung dieses Hasses den
Juden gegenüber führte.
Schon im Mittelalter hatten die Juden in Deutschland kein volles Bürgerrecht.
Sie mussten sich mit Geld ihre Rechte erkaufen. Sie durften keinen Grundbesitz
haben, selbst ein Garten war verboten. Außerdem durften sie keine Handwerksberufe
erlernen, so wandten sie sich anderen Berufen zu, wie z.B. dem Beruf des
Arztes oder des Rechtsanwaltes. Viele Juden fanden ihre Berufung in Kunst
und Architektur. Ihre Berufe hatten viel mit Handel und Geldgeschäften zu
tun. Da die Christen keine Zinsen nehmen durften, übernahmen die Juden die
Arbeit des Bankiers. Wer sich also auf diese Weise mit Logik und Verstand
gut anpassen konnte, konnte sich auch durchsetzen. Mit den Jahren schafften
es ziemlich viele Juden Wohlstand zu erwerben.
*1) Frau
Fredebold ergänzt und korrigiert hier:
Ich möchte bemerken, dass die Judengesetzgebung in den vielen kleinen und
größeren Fürstentümern, aus denen Deutschland bestand, durchaus unterschiedlich
war. Meine Forschungen beschränkten sich nur auf das Kurfürstentum und spätere
(seit 1814) Königreich Hannover, was etwa dem heutigen Niedersachsen
entspricht, nicht auf ganz Deutschland.
Frau Fredebold erinnerte sich, dass Hitler seine Absichten gegen die Juden
laut verkündete. Er versteckte nie seinen Hass und seine Vorhaben vor der
Öffentlichkeit. Das warf bei uns Zuhörern natürlich die Frage auf, warum
dann niemand darauf reagierte und versuchte, ihn davon abzuhalten. Frau
Fredebold berichtete, dass das Volk und die Wähler keine Ahnung hatten,
dass Hitler einen Krieg beginnen wollte, und die Ankündigungen seiner Absichten,
vor allem die Judenverfolgung, wohl niemand wirklich geglaubt hatte.
Langsam bewegten wir uns auf das Thema "KZ" (Konzentrationslager) zu, wo
wir mit Überraschung Frau Fredebolds Erzählung zuhörten, dass das Volk anfangs
überhaupt keine Ahnung hatte, dass es die KZs überhaupt gab; es wurde alles
geheim gehalten, und die Menschen, die etwas darüber erfuhren, behielten
es für sich. Als nach Kriegsende die Konzentrationslager befreit wurden,
reagierte das Volk mit Angst und Entsetzen versetzt. Sie konnten es nicht
glauben, konnten sich dafür aber die Fragen, die sie sich gestellt hatten,
wo die verschwundenen Juden denn alle hin waren, selbst beantworten. Man
hatte ihnen erzählt, dass sie in Arbeitslager geschickt worden waren, doch
nach der Kenntnis über die KZs, wussten sie mit Sicherheit, was mit den
Juden in den Konzentrationslager geschehen war. Frau Fredebold war über
ihre Erzählung eines kleinen jüdischen Mädchens, welches sie gut kannte,
und welches noch im Kindesalter im KZ umkam, selbst nach all den Jahren
so erschüttert, dass sie in Tränen ausbrach, und ich selbst war sehr nah
dran, es ihr gleichzutun.
*2) Frau
Fredebold korrigiert und ergänzt den vorhergehenden Abschnitt:
Wir haben sehr wohl von den KZs gewusst. Das erste wurde schon im März 1933
von Himmler eingerichtet (in Dachau). Aber sie galten als Umerziehungslager
für politisch Unzuverlässige. Wovon wir NICHTS wussten, waren die TODESLAGER.
Die Massenmorde an den Juden begannen erst während des Krieges und die Vernichtungslager
waren auch nicht auf deutschem Boden, sondern in der Tschechei und
in Polen. Auch Bergen-Belsen war kein Vernichtungslager. Als die Siegermächte
auf deutschem Boden waren, wurden die Juden dort zusammengetrieben und verelendeten,
verhungerten und starben dort, weil keinerlei Infrastruktur für diese vielen
Menschen vorhanden war. Grausam genug, aber ein Vernichtungslager in dem
eigentlichen Sinne war es nicht.
Selbst Deutsche, die sich weigerten zu politischen Versammlungen zu gehen,
oder etwas gegen die aktuelle Politik in der Öffentlichkeit sagten, wurden
ins KZ geschickt. Es gab keine anderen Parteien, also auch keine verschiedenen
Meinungen, und somit auch kaum öffentlichen Widerstand gegen die Partei,
die regierte; es herrschte also eine Diktatur. Nur wenige leisteten Widerstand,
da es natürlich für die Widerständler gefährlich war.
Frau Fredebolds Besuch und ihre informativen Erzählungen haben uns allen
einen sehr realistischen Einblick zur Lebenslage in den Jahren um den zweiten
Weltkrieg geboten. Wie schon erwähnt, wurden viele unserer Fragen detailliert
beantwortet und geklärt. Es war sehr spannend, Frau Fredebolds Sicht der
damaligen Ereignisse zuzuhören, vor allem weil wir vieles erfahren haben,
was wir noch nicht wussten, und wir alle aus der AG "Schreiben gegen das
Vergessen", unsere Lehrer und Leiter eingeschlossen, sind uns einig, dass
wir Frau Fredebold bei Gelegenheit um einen weiteren Besuch bitten werden.
Dieser Bericht wurde von Helga Fredebold autorisiert.
Drei ergänzende Anmerkungen wurden dem Bericht hinzugefügt: *1) und *2)
und *3).
*3) Noch eine kleine, tröstliche Story zum Schluss. Es gab auch noch Menschen,
die Schneid hatten.
Mein Schwiegervater war Major und Ritterkreuzträger. Als er während eines
Fronturlaubs erfuhr, dass einer seiner Werkmeister (er war 40 Jahre Direktor
bei C:A.Schäfer, einer Firma, die es heute nicht mehr gibt), wegen Abhörens
von Feindsendern ins KZ gekommen war, ging er in voller Montur mit Orden
und Ehrenzeichen angetan zum hannoverschen Gauleiter Hartmann Lauterbacher
und erwirkte tatsächlich die Freilassung des Mannes. Das hätte auch schiefgehen
können.
Wir danken Frau Fredebold für das Gegenlesen des Berichts und die Anmerkungen!
Zu dieser Veranstaltung finden sich in der Fotogalerie einige Aufnahmen.
Dimitra Dermitzaki
Das heutige Projekttreffen galt der Vorbereitung der nächsten Projektstunde,
in der Helga Fredebold über ihre Kindheit und Jugendzeit während des Nationalsozialismus
in Hannover sprechen wird sowie
über ihre Publikation "Geschichte und Geschichten aus Rössing", in der sie
unter anderem den Spuren der jüdischen Familie Blumenthal nachgegangen ist.Wir haben
Fragen erarbeitet, die wir in vier Abschnitte aufgeteilt haben.
1. Kindheit
und Jugendzeit in Hannover während der Kriegsjahre
2. Kriegsende
3. Wendepunkt
4. Zeit
in Rössing, Fragen zur Familie Blumenthal
07. September 2009:
Der
heutige Montag diente der Vorstellung bereits erzielter Ergebnisse und des
Weiteren lasen wir ein paar Eindrücke aus Petr Ginz’ Tagebuch. Begonnen
wurde die Stunde mit dem Buchreferat von Anne Voß über das Tagebuch des
Petr Ginz. Sie stellte uns das Leben des Juden auf eine anschauliche Weise
dar, so dass keiner von sich behaupten konnte, nicht berührt von der Sichtweise
des hochtalentierten und damals Minderjährigen Petr Ginz gewesen zu sein.
Anerkennung für seinen Schreibstil in dem Alter hielt jeder für angebracht.
Außerdem stellte Svenja Fischer den Anfang ihres Textes „ Der Schnee trägt
rote Mützen“ vor. Nach einem Gespräch mit ihrer Großmutter fasste sie den
Entschluss, diese Geschichte auf Papier festzuhalten. Eine richtige Entscheidung,
wie die Resonanz zeigte. Zu guter Letzt befassten wir uns mit einigen wenigen
von Ginz’ Tagebucheinträgen. In einer seiner Erzählungen in der er von der
Glühbirne schreibt, die die Mücken in den Tod zieht, wurde unter anderem
eine Anspielung auf den Nationalsozialismus gesehen.
M.S.
Nachdem der Artikel in den Leine-Nachrichten
bereits einiges Interesse bei Lesern geweckt hat, haben wir nun noch eine
weitere Chance bekommen, mit einer Zeitzeugin zu sprechen. Neben Salomon
Finkelstein und Henry Korman, die sich bereits für ein Zeitzeugengespräch
zur Verfügung gestellt hatten, hat sich
eine Frau gemeldet, die den zweiten Weltkrieg als Mädchen und junge Frau
in Hannover miterlebt hat. So
haben wir die Möglichkeit, die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgungs-
und Vernichtungspolitik von einer nichtjüdischen Zeitzeugin
zu hören und aus einem anderen
Blickwinkel heraus zu betrachten.
Lange werden wir die Möglichkeit nicht mehr haben, mit Zeitzeugen zu sprechen
und so sollten wir diese letzte Chance jetzt noch ergreifen, das ist uns
allen sehr wichtig! So haben wir uns diese Woche auch weiter mit dem Thema
befasst, sind Bücher durchgegangen, die die Geschichte von Menschen erzählen,
die eine unfassbare Vergangenheit teilen. Tagebücher, Echtzeitberichte und
Sachtexte – möglichst viel soll uns schließlich darauf vorbereiten, etwas
Eigenes zu diesem Thema zu verfassen. So haben wir uns heute gegenseitig
aus dem Buch „Prager Tagebuch“ von Petr Ginz vorgelesen, um uns ein Bild
über diese Zeit zu machen. Mal sehen, wie es weitergeht, wenn wir mit den
Zeitzeugen gesprochen haben …
Anne Voß
Das Projekt geht
an den Start
Nun geht das Projekt „Schreiben gegen das
Vergessen“ an die Startlinie: das erste Treffen dieser Arbeitsgemeinschaft
an der Albert-Einstein-Schule Laatzen hat bereits einige Interessenten auf
den Plan gerufen. Schon bei unserem ersten Treffen haben wir Besuch von
einer Redakteurin der HAZ- Leine-Nachrichten bekommen, die gleich am nächsten
Tag einen sehr interessanten Artikel über uns gebracht hat. Ein guter Start
und es ist auch schon so einiges in Planung. Nachdem uns die Laatzener Schriftstellerin
Corinna Luedtke das Konzept
dieser Projekt-AG vorgestellt hat, haben wir direkt Wünsche äußern können,
inwiefern wir das Projekt gerne mitgestalten möchten. Möglich ist ein Berlinbesuch,
bei dem wir uns über das Judentum informieren können. Ebenso ein Besuch
in Gleidingen, der uns erlaubt, das Projekt der „Stolpersteine“ für unser
eigenes zu nutzen und zusätzlich den Gedenkstein der ehemaligen Synagoge
zu besuchen. Noch viel, viel mehr kann nach unseren Vorstellungen hinzukommen.
Doch als nächstes ist uns allen erst mal wichtig, dass wir dem Namen unseres
Projekts auch gerecht werden und dafür sorgen, dass die Zeit des Nationalsozialismus
in Deutschland nicht vergessen wird! Wie wir das letztendlich gestalten,
ist ganz uns überlassen und das ist wohl auch der Charme dieses Projekts.
Wer möchte sich denn spannenden Kurzgeschichten, fesselnden Romanen oder
mitreißenden Gedichten entziehen, die alle das eine zum Thema haben, nämlich
nie die Zivilcourage zu vergessen?! Keiner, möchte ich antworten und so
freuen sich auch alle auf die Öffentlichkeitsarbeit zu diesem Thema mit
der professionellen Unterstützung von Corinna Luedtke, die uns heute auch
schon an einem ihres noch unvollständigen Literatur-Projekts hat teilhaben
lassen. Mal sehen, was erst auf uns zukommt, wenn wir unsere eigenen Projekte
den anderen vorstellen können …
Anne Voß
31. August 2009:
Foto: Susann Reichert
24. August 2009: